»Wider das Recht, aber straffrei – daß heißt: ein Gesetz ohne Sinn. Wider das Recht, aber straffrei – was dümmeres gibt es doch nicht. Wider das Recht, aber straffrei – wozu gibt es dann ein Gesetz?«
—- Dieter Hildebrand, Werner Schneyder, “Scheibenwischer”, 01. Juli 1993
Aus der Begründung des Verfassungsgerichtes:
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Es bestehen zwar erhebliche Zweifel an der Tragfähigkeit der Argumentation der Behörde und des Oberverwaltungsgerichts. Im Hinblick auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist es insbesondere verfassungsrechtlich bedenklich, den Schutzraum in der Nähe des Ortes des G8-Gipfels bis […] auszudehnen und ein absolutes Demonstrationsverbot […] in erster Linie auf das von der Behörde entwickelte Sicherheitskonzept zu stützen. An dem Sicherheitskonzept ist an keiner Stelle zu erkennen, dass auch Anliegen der Durchführung friedlicher Demonstrationen, insbesondere solcher mit einer inhaltlichen Stoßrichtung gegen den G8 Gipfel, eingeflossen sind.
Letztlich aber kann dahinstehen, ob die vorhandenen Defizite zu einer offensichtlichen verfassungsrechtlichen Fehlerhaftigkeit der Entscheidungen geführt haben. Aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Entwicklungen, insbesondere der gewalttätigen Auseinandersetzungen seit dem 2. Juni 2007, lässt sich nicht feststellen, dass es zur Abwehr eines den Antragstellern drohenden schweren Nachteils im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG geboten ist, dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattzugeben.
Bei den Ausschreitungen in Rostock am 2. Juni 2007 wurden mehrere hundert Polizeibeamte verletzt. […] Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der […] auf über 2.000 geschätzten […] gewaltbereiten Personen sich an den […] als friedlich geplanten Versammlungen beteiligen und auch gegen den ausdrücklichen Willen der Veranstalter bereit sind, Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen zu begehen. […] Es bestehe die Gefahr, dass der geplante Sternmarsch zu einem besonderen Anziehungspunkt für militante Störer werde. […]
Angesicht der geschilderten Risiken ist es nicht geboten, eine einstweilige Anordnung zur Sicherung der Durchführung der geplanten Versammlung und damit zum Schutze des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zu erlassen. Dabei fällt auch ins Gewicht, dass es den Veranstaltern aufgrund der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts nicht verwehrt ist, ihr Anliegen auf einer öffentlichen Versammlung durchzuführen, wenn auch außerhalb der Verbotszone und damit mehrere Kilometer entfernt, aber nicht ohne jeglichen Bezug auf den Ort der Veranstaltung, gegen die sich der Protest richtet.
Damit ist besagtes Grundrecht meines Erachtens massiv ausgehölt worden. Es bedarf nur der Gefahr durch eine Masse »gewaltbereiter Personen« und eines ausgewiesenen Alternativplatzes »nicht ohne jeden Bezug auf den Ort der Veranstaltung, gegen die sich der Protest richtet« (wachsweich formuliert, es reicht offensichtlich die nächstbeste Bundesstraße), und, *schupps* ist jede beliebige Bannmeile gebongt.
Nein, ich habe nicht wirklich erwartet, daß die Richter am BVerfG den Mut haben, die Sperrzonen vollständig aufzuheben. Schlußendlich geht es auch um die Abwägung zwischen Rechtsgütern, Sicherheit für Leib und Leben und z. T. auch Hab und Gut steht dem Recht auf Versammlung entgegen — selbst ohne Radale werden 5000, 10000, 40000 Menschen die eine oder andere Blume zertreten, den einen oder anderen Zaun eindrücken oder auch schlimmeres.
Die alternativlose Ablehnung des Antrages – IANAL, hätte das BVerfG nicht auch unter Auflagen dem Antrag stattgeben können, z. B. Sternmarsch bis direkt an die »komplexe technische Sperre«, wo »nur« Leib und Leben der Polizsten, Demonstranten sowie lokaler Flora und Fauna gefährdet wäre? (Ok, und der Zaun wäre vielleicht nicht mehr als ganz neu verkaufbar gewesen. Ist der nicht aber von den Veranstaltern schon bezahlt, bekommen diese Anteile am Verkaufserlös?) – allerdings enttäsucht mich maßlos. Denn immerhin »bestehen zwar erhebliche Zweifel an der Tragfähigkeit der Argumentation der Behörde und des Oberverwaltungsgerichts« und auch an »dem Sicherheitskonzept ist an keiner Stelle zu erkennen, dass auch Anliegen der Durchführung friedlicher Demonstrationen, insbesondere solcher mit einer inhaltlichen Stoßrichtung gegen den G8 Gipfel, eingeflossen sind«; aber weil’s Randale gegeben hat, gibt’s jetzt gar nix?
Diese Antragablehnung ist meines Erachtens ein Freibrief für jede Regierung, unliebsamen Protest weit von sich zu halten. Die geadelte Zutatenliste hat das BVerfG heute grade aufgestellt, der Zerfledderung der ehedem geltenden Bürgerrechte die Tür weiter aufgestoßen.
Zu wünschen wäre die Herbeiführung einer Entscheidung, ob die Maßnahmen denn verfassungsgemäß waren — die Liste der Zweifler umfaßt ja offensichtlich selbst die befaßten Richter.
Wie dem auch sei, um so mehr muß jetzt darauf geachtet werden, daß Kontroll- und Reglementierungsmaßnahmen nicht nur im Internet nicht verfeinert werden; anderenfalls heißt es ab 2010: »Totales Verbot der aktiven Teilnahme an Datenkommunikation im Zeitraum von 3 Monaten vor bis 1 Monat nach Event X«. Zeit, über Stimmen für eigentlich Unwählbares, wie PBC, APPD oder Die Partei, nachzudenken …
[Update, 20070607 21:05] Ein Kommentar (#12) zum law blog-Artikel zitiert das sog. Brockdorf-Urteil (warum finde ich das nur in der Schweiz?):
12. Stefan meint: (6. 6 .2007 um 14:48)
“sich drücken” trifft es ganz gut.
In der PM heißt es: […]
Zudem möchte ich auf das – inzwischen in diesem Zusammenhang schon arg strapazierte – Brokdorf-Urteil verweisen, in dem es heißt:
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Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, daß […]
Würde unfriedliches Verhalten Einzelner für die gesamte Veranstaltung und nicht nur für die Täter zum Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, hätten diese es in der Hand, Demonstrationen “umzufunktionieren” und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig werden zu lassen (so schon OVG Saarlouis, DÖV 1973, S. 863 [864 f.]); praktisch könnte dann jede Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer “Erkenntnisse” über unfriedliche Absichten eines Teiles der Teilnehmer beibringen lassen.
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Exakt dies ist nun hier geschehen.
Nach Studium der Entscheidung (und nicht nur der deutlich knapperen Pressemitteilung), teile ich diese Ansicht nicht mehr. Vielmehr halte ich es für sehr wichtig zu klären, was es nun mit den/dem angeblichen Agent Provocateur auf sich hat — und ob, wie schon nach den Krawallen bei der Auftaktveranstaltung Stimmen laut wurden, diese fragwürdigen Methoden nicht auch schon dort angewandt wurden, wenn sie denn angewandt wurden … »Ein Dementi klingt anders« (Spiegel Online).
In seiner Entscheidung referenziert das BVerfG das Brockdorf-Urteil sehr wohl und stellt ziemlich klar, daß ohne die Ausschreitungen vom 02.06.07 die Entscheidung durchaus anders hätte aussehen können (stark gekürzt, bitte ggf. den Entscheidungstext hinzuziehen:
Es ist zweifelhaft, ob die von der Behörde und dem Oberverwaltungsgericht für die Beschränkungen gegebene Begründung den Anforderungen genügt, nach denen von einer einstweiligen Anordnung zum Schutze der Belange der Antragsteller abgesehen werden kann.
a) In der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes haben Grundrechte einen hohen Rang. Der hoheitliche Eingriff in ein Grundrecht bedarf der Rechtfertigung, nicht aber benötigt die Ausübung des Grundrechts eine Rechtfertigung. Dies verkennt im Ausgangspunkt der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts, die letztlich maßgebliche Entscheidung.
[…]
b) Der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Veranstalters können gewichtige Interessen entgegenstehen. Ob diese im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung die vorgesehene Beschränkung rechtfertigten, ist zweifelhaft.
[…]
Nach den vorliegenden Unterlagen ging es in dem Sicherheitskonzept ausschließlich darum, Sicherheit gegen Demonstranten und gegen die möglicherweise im Umfeld der Demonstration sich aufhaltenden potentiellen Gewalttäter zu ermöglichen. So betrachtet, war das den Schutz des G8-Gipfels dienende Sicherheitskonzept zugleich zumindest objektiv ein gegen die Durchführbarkeit von Versammlungen in der Verbotszone gerichtetes Konzept. Die auch von Vertretern der Bundesregierung, so der Bundeskanzlerin auf einer Pressekonferenz am 18. Mai 2007 in Sankt Petersburg öffentlich unterstützte Möglichkeit, in der Bundesrepublik Deutschland den friedlichen Protest gegen den G8-Gipfel “in wirklich sichtbarer Form” und damit auch demonstrativ und öffentlichkeitswirksam vorzutragen, erhält in dem Sicherheitskonzept keine Verwirklichungschance. […]
Insofern reicht der Verweis auf das Sicherheitskonzept als solches nicht, um das gegen die Antragsteller gerichtete weitgehende Verbot der Durchführung der beabsichtigten Versammlung als Ergebnis einer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechenden Abwägung zwischen Sicherheitsinteressen einerseits und dem Demonstrationsrecht andererseits zu rechtfertigen. Es bedurfte vielmehr einer die konkreten Umstände einbeziehenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung im Einzelfall. Daran aber fehlt es vorliegend.
2. Letztlich aber kann dahinstehen, ob diese Defizite zu einer offensichtlichen verfassungsrechtlichen Fehlerhaftigkeit der Entscheidungen geführt haben. Denn aufgrund der zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse über das konkrete Gefahrenpotential eines Teils der zum G8-Gipfel angereisten Personen aus dem In- und Ausland gibt es hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die bisher zugrunde gelegte Prognose erschüttert ist, die Demonstrationen würden im Wesentlichen friedlich verlaufen.
a) Wären allerdings kollektive Unfriedlichkeiten nicht zu befürchten, dann müsste für die friedlichen Teilnehmer der Schutz der Versammlungsfreiheit grundsätzlich auch dann erhalten bleiben, wenn eine Minderheit Ausschreitungen beginge (vgl. BVerfGE 69, 315 <361>). Andernfalls hätten Minderheiten es in der Hand, Demonstrationen “umzufunktionieren” und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig werden zu lassen; praktisch könnten viele Großdemonstrationen verboten werden, nämlich alle, bei denen sich Erkenntnisse über unfriedliche Absichten eines Teils der Teilnehmer beibringen lassen. Ein vorbeugendes Verbot der gesamten Veranstaltung ist jedoch nur unter strengen Voraussetzungen statthaft, zu denen insbesondere die vorherige Ausschöpfung aller sinnvoll anwendbaren Mittel gehört, die eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten (beispielsweise durch die räumliche Beschränkung) ermöglichen (vgl. BVerfGE 69, 315 <362>).
b) Bei den Ausschreitungen in Rostock am 2. Juni 2007 wurden nach Angaben der Polizei mehrere hundert Polizeibeamte verletzt. Zudem ist es zu erheblichen Sachbeschädigungen gekommen. […] Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der […] im Raum Rostock anwesenden gewaltbereiten Personen sich an den von anderen als friedlich geplanten Versammlungen beteiligen und auch gegen den ausdrücklichen Willen der Veranstalter bereit sind, Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachen zu begehen.
[…]
3. Die am Maßstab des § 32 Abs. 1 BVerfGG vorgenommene Prüfung ergibt, dass es angesichts der geschilderten Risiken nicht geboten ist, eine einstweilige Anordnung zur Sicherung der Durchführung der geplanten Versammlung und damit zum Schutze des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zu erlassen. […] Das Risiko, dass der kommunikative Zweck der Veranstaltung auf diese Weise nicht mit der beabsichtigten Qualität erreicht werden kann, ist angesichts der aktuellen Gefahrensituation und des Umstandes, dass auch eine Demonstration außerhalb der Verbotszonen aller Voraussicht nach öffentliche Beachtung finden wird, hinzunehmen.
Quintessenz: Aufgrund des nach dem 02.06.07 scheinbar vorhandenen Gefahrpotentials konnte bei den räumlichen Voraussetzungen dem Eilantrag nicht stattgegeben werden. Beachtlich ist auch der Nachsatz: »Die Antragsteller haben demgegenüber nicht angeregt, eine solche [“kleinere”] Delegation anstelle des geplanten Sternmarsches durch die Verbotszonen I und II vorzusehen, so dass nicht darüber zu entscheiden ist, ob einem solchen Antrag im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes hätte Rechnung getragen werden können.«
Hätten die Organisatoren also für den Fall der Ablehnung des kompletten Sternmarsches durch alle oder wenigstens die äußere Verbotszone beantragt, eine kleinere Delegation (hmm, von mal 10.000 Leuten ausgehend, wieviel wäre dann »kleiner«? 1.000? 500?) marschieren zu lassen, hätte die Möglichkeit einer Demonstration in Sichtweite des Tagungshotels in Heiligendamm also durchaus bestanden — so jedenfalls interpretiere ich diesen Hinweis auf die Nichtentscheidung eines nicht eingebrachten Antrags. Schade; das wäre der I-Punkt gewesen, legale Demo in Heiligendamm, Zaun und den Schäubles, Becksteins usw. zum Trotz.
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